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09/02/2014 / Clemens Rüttenauer

Wie mir Dagmar Berghoff die Augen öffnete

(Die Berghoff ist nicht auf den Mund gefallen)

Eine Bitte des Autors: Ein gelegentliches, verhaltenes, innerliches Schmunzeln sei gestattet, auch wenn das eine ernste Geschichte ist. Aber – Mädels, bitte keinen Aufschrei! Mädels, bitte schlagt mich nicht! Mitleid wäre allerdings noch schlimmer – dann schlagt mich lieber.


Dagmar Berghoff war die erste Tagesschausprecherin im deutschen Fernsehen (1967). Bis dahin war das eine reine Männerdomäne – besetzt von Männern, die uns glauben machen wollten, Nachrichten dürften nur mit tonloser, entmenschlichter Stimme verlesen werden. Dagmar Berghoff hat TV-Geschichte geschrieben. Nicht nur das, sie ist auch Teil meiner Geschichte.

Anlässlich ihrer Verabschiedung 1999 erzählt sie in einem Spiegel-Interview: „Ich fand das schon immer wichtig, mal eine Regung zu zeigen, für einen Augenblick eine Verbindung zwischen Sprecher und Zuschauer herzustellen. Bei schlimmen Meldungen zum Beispiel kann man durchaus betroffen sein und schlucken oder eine kleine Pause machen. Und bei Hochzeiten ein kleines Lächeln im Gesicht haben.“ Ich konnte sie also gelegentlich  Lächeln sehen – schön! Das ist inzwischen Geschichte – nicht nur Dagmar Berghoff, auch das „Lächeln sehen“.

Es war im Herbst 1991 – ein Samstag. Samstag heißt Fußball, heißt Sportschau. An die Spiele kann ich mich nicht mehr erinnern, aber an die Bande (die mit der Bandenwerbung). Bei Kameraschwenks tanzte die obere Kante der Bande auf und ab – mal in Schlangenlinien, mal im Zickzack. Hat der Kameramann das Zittern? Spinnt mein Fernseher? Dann kam die Tagesschau – mit Dagmar Berghoff. Ob sie heute wieder lächeln würde? Ich sah ihr in die Augen. Aber – Schreck! Was ist das!? Die Nase verstümmelt, der Mund grauenhaft verzerrt. Was ist los, was ist passiert? Panik! Hektische Sehversuche am Bücherregal, am Fenster, am Fernseher, am Spiegel. Immer ist da ein kleiner verschwommener Fleck, und zwar ziemlich genau in der Mitte des Blickfelds. Junge, was ist los mit dir? An der Berghoff liegt’s nicht. Die Berghoff ist nicht auf den Mund gefallen. Es sind meine Augen! Irgendetwas stimmt nicht mehr mit meinen Augen. Was ist das bloß? Was hat das zu bedeuten? Geht das wieder weg?

Es ging nicht weg. Ein Sonntag voller Sorgen. Montag Augenarzt. Meine Hornhautverkrümmung wäre schuld daran. Die hatte ich aber doch schon immer. Weitere Phänomene traten auf: Farben verblassen, Sonne konnte ich gar nicht mehr haben. Hornhautverkrümmung? Zum Glück fiel mir ein, ich kannte doch Klaus Riedel – über eine gemeinsame Bekannte – den Leiter der Augenklinik Herzog Carl Theodor in der Nymphenburgerstraße. Stolz zeigte er mir sein Reich und erklärte mir all die tollen Einrichtungen und Apparate. Ich hatte ganz andere Sorgen. Der Visus hatte sich jetzt auf 20 % verringert – kurz zuvor waren es noch 50 %. Klaus trommelte seine Leute zusammen. Schnell waren sie sich einig, es muss eine Schädigung der Netzhaut vorliegen, mit der Hornhautverkrümmung hat es nichts zu tun. Nicht Klaus Riedels Baustelle, also ab in die Uni-Augenklinik in der Mathildenstraße. Und am besten gleich einen Termin vereinbaren bei Zrenner in Tübingen – dem Netzhaut-Pabst. Ein Empfehlungsschreiben gab er mir gleich mit.

Aber hoppla, hatte nicht einer meiner Brüder – wir sind 5 Brüder – erzählt, er hätte was mit den Augen und keiner wüsste so recht, was. Also nachgefragt. Die Phänomene differierten zwar etwas, aber es bestand kein Zweifel: wir haben dasselbe. Und war da nicht auch noch ein halbblinder Onkel in Finnland? Eine Vererbungsgeschichte? So selten wir – mein Bruder und ich – uns sonst trafen, jetzt trafen wir uns regelmäßig in der Augenklinik. Die Untersuchungen waren eine an Körperverletzung grenzende Tortur. Nach Tübingen fuhren wir gemeinsam. Die Tübinger waren begeistert. Zwei Brüder hier und ein Onkel in der Ferne, da muss doch was zu finden sein – etwas Genetisches. Sie waren richtig geil auf unser Blut – und auf das unserer Verandschaft. Ansonsten war es die übliche Quälerei. Wir haben jedenfalls der Wissenschaft gedient. Dient die Wissenschaft auch uns? Immerhin haben wir jetzt eine Diagnose: „Soundso-Dystrophie“- eine seltene Netzhauterkrankung.

Aha – Soundso-Dystrophie! Mit diesem Wissen bin ich im Klinikviertel von einer medizinischen Buchhandlung zur anderen und habe mir dasjenige Lehrbuch der Augenheilkunde ausgesucht, das insgesamt nicht zu umfangreich war, aber relativ viel über die Soundso-Dystrophie enthielt. Zugegeben, es war mühsam. Doch dann gelang es mir tatsächlich, diese verrückten, so unerklärlichen Phänomene, vor allem die Probleme mit dem hellem Licht und den Farben, in Übereinstimmung zu bringen mit dem, was in dem Lehrbuch erklärt wurde. Ich begann zu verstehen, das hat mir geholfen.

Wenigstens war da nichts von Erblindung zu lesen; viele andere Netzhauterkrankungen enden unweigerlich in Blindheit. Aber ein Begriff machte mir große Sorgen: Invalidität – die Erkrankung führt zu Invalidität. Gerade erst zu Beginn des Jahres hatte ich im Betrieb eine neue Funktion übernommen – nicht ganz ohne Widerstände. Hätte ich meinem Mitbewerber das Feld überlassen, wenn ich gewusst hätte? Ganz sicher!

Hoffentlich merkt’s keiner. Das war zunächst meine Hauptsorge. Aber, wenn es schlimmer wird? Es wurde schlimmer! Ende 1991 bin ich das letzte Mal Auto gefahren – dann war Schluss damit.  Wie sollte es in der Arbeit weitergehen? Invalide? Und was dann?

Warum ist das so plötzlich gekommen? Ist es wirklich plötzlich gekommen? Nein, mir war schon gelegentlich aufgefallen, dass ich immer schlechter sehe. Rückblickend erkenne ich, es war ein ganz langsamer, schleichender Prozess – über Jahrzehnte. Man kann es vergleichen mit Haarausfall. Solange das Haar langsam und gleichmäßig schütterer wird, fällt das kaum auf, aber wenn sich die erste total freie Stelle bildet, dann geht’s dahin. In der ersten freien Stelle auf meiner Netzhaut verschwanden Nase und Mund von Dagmar Berghoff. Inzwischen habe ich eine bildsaubere, kreisförmige „Netzhaut-Glatze“. Und zwar in der zentralen Mitte – genau dort, wo der Gesunde besonders scharf sieht. Ein gut Teil der Netzhautzellen rings um ist aber erhalten geblieben – und zwar vorwiegend diejenigen, die für Dämmerlicht zuständig sind. Bei hellem Licht sind die überfordert. Daher einerseits diese extreme Lichtempfindlichkeit andererseits ein relativ gutes Sehen bei Dunkelheit. Tatsächlich wie im Lehrbuch!

Wollte ich heute sehen, ob die Tagesschau-Sprecherin mal wieder lächelt, ich würde keine verstümmelte Nase, keinen verzerrten Mund sehen. Nein, der ganze Kopf wäre weg. Um etwas vom Gesicht zu erkennen müsste ich dran vorbeisehen – rechts, links, oben oder unten. Am besten klappt es bei mir, wenn ich einen Punkt deutlich unterhalb des Objekts meiner Begierde anpeile. Ich weiß, Dagmar Berghoff würde es mir nicht übel nehmen, wenn ich ihr dauernd ins Dekolleté starre, nur um vielleicht doch ein Lächeln von ihr zu erhaschen. Ja wenn ich’s nur erkennen könnte – mit diesen dämlichen Dämmerlicht-Dingern! Ich kann es eben nicht! Ich sehe zwar ihr Gesicht, aber nicht deutlich genug. Dagmar Berghoff ist nicht das Problem, aber was, wenn ich Katie, die eifrige Leserin oben im Café Hugendubel eines Tages wiedersehen sollte? Ich blicke ihr ins Gesicht, möchte ihre Augen ergründen, mein Blick senkt sich dazu nach unten. Wie reagiert sie darauf? Abwehrend? Irritiert? Errötend? Gar ermunternd? Wenn ich’s nur erkennen könnte! Was tun? Wär‘ ich ein Brüderle, ich hätte gleich eine zupackende Idee bei der Hand. Aber ich bin kein Brüderle. Kein Brüderle – keine Chance. C’est la vie – so sind die Frauen.

Februar 2014 – CR

P.s. Wer ist Katie? Ich weiß es selbst kaum. Sie ist mir nur einmal begegnet – und zwar hier.

Nachtrag: „Diese dämlichen Dämmerlicht-Dinger“ sind, um bei der Wahrheit zu bleiben, in Wirklichkeit meine Rettung. Wenn ich nämlich meinen Augen mit Hilfe von Spezialbrillen Dämmerung vorgaukle (sozusagen den Tag zur Nacht mache), dann verlieren auch sonnige Tage ihren Schrecken. Näheres siehe Spezialbrillen für Netzhauterkrankungen.

*

Heike meint übrigens, das Lächeln der guten Dagmar Berghoff sei heute wegen der allzu häufigen Botoxen-Stops nicht mehr wiederzuerkennen.
Schlimm! Warum hat sie das bloß gemacht? Doch hoffentlich nicht wegen mir. Das wäre ja echte Tragik!

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One Comment

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  1. wasdunichtsiehst / Feb 11 2014 7:51 pm

    Ein beeindruckender Text.

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